Angebote in der Jugendhilfe werden dringend gebraucht. Sie sind jedoch mit einem hohen Aufwand verbunden: in der Konzeptionsphase und in der Ausgestaltung im Alltag. Viel Idealismus und ein hohes Maß an sozialer Verantwortung sind erforderlich. Was dann daraus erwachsen kann, belegt ein von Kirche und Diakonie im oberbayerischen Landkreis München gemeinsam auf den Weg gebrachtes neues Jugendhilfehaus.
Auf der Wiese wächst jetzt Zukunft
Jugendhilfehaus München - Wir finanzieren, was wirklich wichtig ist
Ein Wohngebiet in Haar, knapp 20 Kilometer östlich von München. Auf einer großen Wiese im Fasanenweg feierte die Gemeinde der evangelischen Jesuskirche seit Jahren immer ihr Sommerfest. Ansonsten nutzte sie den eigenen Garten kaum. Heute spielen, lernen, wohnen und leben Kinder und Jugendliche auf dem Gelände in einem Jugendhilfehaus, das die Diakonie München und Oberbayern betreibt. Gebaut hat es der Evangelisch-Lutherische Dekanatsbezirk München, der es an die Diakonie vermietet hat.
Um die Mittagszeit bringen Busse Kinder von Kita oder Grundschule zu dem mehrgeschossigen Neubau. Einige Kids kommen zu Fuß. Sie wohnen gemeinsam im ersten Obergeschoss – in einer inklusiv-therapeutischen Wohngruppe. Sie bleiben auch über Nacht, sogar an Weihnachten und weiteren Feiertagen. Andere Kinder sind ausschließlich tagsüber im Jugendhilfehaus. Sie besuchen die heilpädagogische Tagesstätte im Erdgeschoss. Das oberste Stockwerk beherbergt eine „Verselbstständigungsgruppe“. Hier bereiten sich junge Männer ab 16 Jahren darauf vor, ihren Alltag künftig eigenständig zu meistern. Noch werden sie von pädagogischen Fachkräften unterstützt.
Jeden Schützling gezielt fördern
„Das Gebäude und das zugehörige Konzept sind für ganz unterschiedliche Förder- und Betreuungsbedürfnisse der insgesamt 35 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgelegt. Ob ADHS, Autismus oder ein Trauma in frühester Kindheit, eine seelische, geistige oder körperliche Beeinträchtigung, eine Entwicklungsverzögerung oder Verhaltensauffälligkeit – jede und jeder der 3- bis 21-Jährigen im Hause wird individuell betreut und gefördert“, so Sabine Hammer, Bereichsleitung der heilpädagogischen Tagesstätten der Diakonie. Der Personalschlüssel und die hohe fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden machten diese umfangreiche Förderung möglich. Darüber hinaus beziehe die Diakonie Fachdienste für spezielle Förderbedarfe mit ein, beispielsweise Psychologinnen und Therapeuten verschiedener Disziplinen, erläutert Hammer.
Damit die Kinder und Jugendlichen so umfangreich unterstützt werden können, arbeiten die für die verschiedenen Jugendhilfeangebote zuständigen Diakonie-Mitarbeitenden und die Hausleitung eng zusammen. „Die individuelle Betreuung ist natürlich sehr aufwendig. Aber wir sehen in ihr eine große Chance für die Zukunft der Kinder. Und auch für das Team hat sie einen hohen ReizZum. Es ist so toll, bei den Kindern Fortschritte mitzuerleben“, so Einrichtungsleitung Carolin Blasi, und sie erzählt aus dem Alltag: von der Herausforderung, für jeden Schützling ein Hobby zu finden und es in den Wochenplan zu integrieren, von gemeinsamen Ausflügen und Festen und vom Anspruch, dass die Wohngruppe zu einer Art Familie zusammenwächst.
Raum für „mich“ – Raum für „uns“
Die Bereiche im Jugendhilfehaus sind nicht strikt voneinander getrennt. Es wurden gezielt Begegnungsmöglichkeiten geschaffen. Auch nach außen – insbesondere zum benachbarten evangelischen Kindergarten – wird Inklusion angestrebt. Familien und Freunde der Kinder im Jugendhilfehaus sind willkommen. Sobald der Rollrasen auf dem neuen Außengelände richtig eingewachsen ist, können sie sich um die Spielgeräte herum mit anderen Youngsters treffen.
Individuelle Förderung zum einen – Miteinander, Begegnung und Inklusion zum anderen: Für das Team der Diakonie gehört beides zusammen. Das wurde auch baulich berücksichtigt. Es gibt in allen Bereichen gemeinschaftlich genutzte Räume, aber auch solche, in die sich die Kinder und Jugendlichen zurückziehen oder in denen sie ein spezielles Förderangebot nutzen können. Der Außenbereich um die nahe Jesuskirche wurde – im Gegenzug zur Bebauung des Gemeindegartens – neu gestaltet, das Gemeindehaus als weiterer Ort der Begegnung renoviert.
Was braucht ein Kind, das traumatisiert ist, bei dem ADHS, Autismus oder eine andere Entwicklungsverzögerung oder Verhaltensauffälligkeit diagnostiziert wurde, von seinen Mitmenschen am dringendsten? „Allem voran: Verständnis dafür, dass es vielleicht anders spricht, sich anders bewegt oder anders reagiert, als wir es gewohnt sind. Verständnis heißt: sich nicht verwundert abzuwenden, sondern sich mit der Situation, dem Kind oder dessen Bezugsperson auseinanderzusetzen.“
Carolin Blasi, Einrichtungsleitung
Verantwortung für die nächste Generation
Neben sozialen spielten auch ökologische Aspekte eine wesentliche Rolle bei der Planung des Neubaus. Das Gebäude erfüllt die Anforderungen an ein KfW-Effizienzhaus 55 (EnEV 2016), sodass die entsprechenden Fördermittel bewilligt wurden. Es wurde in Hybridbauweise – Stahlbeton und Brettsperrholz aus Fichte – erstellt. Für die Fassadenverkleidung wurde Lärchenholz verarbeitet. Auch im Innenausbau finden sich ökologisch zertifizierte Baumaterialien wieder. Ein Heizsystem bestehend aus Luft-Wasser-Wärmepumpe mit Gastherme sowie einer Photovoltaikanlage auf dem Dach unterstützt den ökologisch ausgerichteten Ansatz der gesamten Gebäudeumsetzung.
Platz schaffen im Ballungsraum
Der verantwortungsvolle Umgang mit den verfügbaren Ressourcen war bereits bei den ersten Überlegungen zu einem Neubau ein Thema. „Der Bedarf an Jugendhilfeeinrichtungen ist groß. Wir wollen diese Lücke schließen und gezielt kirchliche Grundstücke für die sozialen Bedarfe der Menschen in München nutzen. Zusammen mit der örtlichen Kirchengemeinde haben wir das Für und Wider abgewogen und uns dann entschieden, den Gemeindegarten in Haar zu bebauen“, erläutert Florian Baier, Geschäftsführer des Kirchengemeindeamts im Dekanatsbezirk München, die Idee für die Nachverdichtung im Wohngebiet Haar. Gerne erinnert er sich daran, wie das Projekt weiter gedieh – in vielen kreativen und konstruktiven Gesprächen mit der Diakonie, den Architekten und verschiedenen Ämtern. So konnte im Ballungsraum München, in dem Geschäfts- und Wohnflächen schwer zu finden sind, ein neues Angebot einer diakonischen Einrichtung öffnen.
Gemeinsam die Zukunft gestalten
„In kurzer Zeit waren alle Plätze belegt. Die Warteliste ist lang“, berichtet Daniela Heyer. „Trotz Fachkräftemangel konnten wir zügig Personal finden“, schildert die Stellvertretende Gesamtleitung Jugendhilfe des Fachbereichs Heilpädagogische Wohngruppen und Tagesstätten bei der Diakonie. Eine Wohnung für vier Mitarbeitende, die sich ebenfalls im Gebäude befindet, hat dies aus ihrer Sicht beschleunigt.
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Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene können betreut werden
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Auszeichnungen hat das Haus von der Bayerischen Architektenkammer erhalten: für Energieeffizienz und für Barrierefreiheit
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Millionen Euro hat das Jugendhilfehaus gekostet
Rund sechs Millionen Euro hat das neue Jugendhilfehaus in Haar gekostet. „Das Konzept und die architektonische Umsetzung des Jugendhilfehauses waren für uns von Anfang an stimmig und überzeugend. Das neue Angebot leistet einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft. Gerne haben wir dafür ein Finanzierungskonzept erstellt“, so Ilona Pollach, Vorständin der Bank für Kirche und Diakonie bei ihrem Vor-Ort-Besuch im Juli. „Generell ist es uns wichtig, dass wir die jeweilige finanzielle Situation und die speziellen Ansprüche unserer Kunden an ihr Bauvorhaben genau kennen. Dann können wir, wie in Haar, die aktuellen Fördermöglichkeiten ausschöpfen und uns zu den Konditionen unseres Darlehens verständigen“, sagt Christian Lange, Abteilungsdirektor Kirche & Stiftungen Nord/Ost/Süd.
Auszeichnung für Nachhaltigkeit
Das auf ökologische Nachhaltigkeit ausgelegte Gebäudekonzept des Architekturbüros Kammerl & Kollegen in Pfaffing wurde im Mai 2023 von der Bayerischen Architektenkammer ausgezeichnet. Im Rahmen ihres Leitbegriffs „KlimaKulturKompetenz“ vergab sie die Auszeichnung für Nachhaltigkeit in der Kategorie „Energieeffizienz“. Damit würdigte sie die baulichen Maßnahmen zur Nutzung regenerativer Energien und den ganzheitlich ökologischen Ansatz der architektonischen Gebäudeumsetzung. Eine weitere Auszeichnung vergab die Kammer in der Kategorie „Barrierefreiheit“.